Schatten über dem Sternenfeld

Kapitel 1: Der Himmel ruft nach Fynn

Birsfelden, Schweiz – 12. Oktober 1930.

Der Himmel war bleigrau, und ein feiner Nieselregen legte sich wie ein Schleier über das Sternenfeld. Doch das Wetter hielt niemanden zurück. Mehr als 30 000 Menschen drängten sich auf dem Flugplatz, den man seit 1919 kannte – damals noch für Militärballonversuche, nun ein Magnet für die Zivilfliegerei.

Der 20-jährige Fynn stand ganz vorne am Absperrseil. Die Menschen um ihn tuschelten, manche hielten Ferngläser hoch, andere kleine Kameras. Und dann kam er – der LZ 127 „Graf Zeppelin“, ein silberner Riese, der durch die tiefhängenden Wolken brach. Seine gigantische Silhouette wirkte wie ein Geschöpf aus einer anderen Welt. Die Motoren summten dumpf, und als der Zeppelin sanft auf dem Feld aufsetzte, stockte Fynn der Atem.

Dieser Augenblick brannte sich tief in ihn ein. Er schwor sich, eines Tages selbst am Steuer eines solchen Giganten zu stehen. Technik, Fortschritt, Abenteuer – für Fynn war das kein ferner Traum, sondern ein Ziel. Noch während die Menge jubelte, fasste er den Entschluss: Er würde auf diesem Flugplatz arbeiten. Und eines Tages, ja, eines Tages würde er ein Zeppelinpilot sein.

Birsfelden, Frühjahr 1932

Ein Sonnenstrahl fiel schräg durch das kleine Fenster in Fynns Zimmer. Er rieb sich die Augen – der Traum von der „Graf Zeppelin“-Landung war so klar gewesen, dass er für einen Moment glaubte, wieder dort zu stehen. Dann riss ihn ein Blick auf die Uhr aus der Illusion.

„Mist!“

Er war spät dran. Viel zu spät.

Fynn sprang aus dem Bett, zog sich im Laufen an und rannte die engen Treppen hinunter. Seit gut einem Jahr arbeitete er auf dem Sternenfeld, und das nur, weil Ludwig Abel, einer der angesehensten Zeppelinpiloten der Schweiz, ihn unter seine Fittiche genommen hatte. Ludwig war kein gewöhnlicher Pilot. Während des Weltkriegs hatte er als Luftbeobachter für Frankreich gedient, war über Flandern abgestürzt – und angeblich verschwunden. Drei Jahre lang fehlte jede Spur von ihm, bis er 1922 wieder in Basel auftauchte. Ludwig war streng, aber fair – und schien in Fynns Begeisterung für die Luftschifffahrt etwas zu erkennen, das ihn an sich selbst erinnerte.

Ludwig besass die „Valkyria“, ein Luftschiff, dessen Ursprung in einer Geschichte lag, die er nur in Andeutungen erzählte. Die „Valkyria“ war eine modifizierte Version eines deutschen Parseval-Luftschiffes, das Ludwig nach dem Krieg in Einzelteilen aufgekauft und mit Hilfe eines Basler Ingenieurs wieder zusammengesetzt hatte. In den Eingeweiden der Gondel befand sich eine merkwürdige Apparatur aus Kupfer, Glas und feinen Zahnrädern, die er schlicht „den Kompass“ nannte. Fynn durfte ihn nie berühren – und durfte schon gar nicht mitfliegen. Seine Aufgabe war Wartung, Reinigung und das Bereitstellen der Vorräte.

Heute jedoch, wegen seiner Verspätung, fiel ihm die undankbarste Aufgabe zu: Den gesamten Zeppelin putzen.

Mit einem Eimer Wasser und einem Tuch kletterte er über die schmale Leiter in die Gondel. Er polierte Messingbeschläge, wischte den Steuerstand ab – und blieb schliesslich vor der mysteriösen Apparatur stehen. Sie glomm schwach, als würde sie im Schlaf atmen.

„Nur ein kurzer Blick...“ murmelte er.

Er legte die Hand auf den kühlen Kupferrahmen. Plötzlich erwachte das Gerät. Zahnräder begannen sich zu drehen, und vor ihm erschien ein kleines Anzeigeinstrument – mit einer Datumsangabe. Seine Finger zitterten, als er eine Zahl eintippte: 15. Mai 1950.

Er drückte den Bestätigungsknopf.

Ein tiefes Summen vibrierte durch den Rumpf der „Valkyria“. Funken tanzten in der Apparatur, und irgendwo draussen heulten die Propeller kurz auf, als ob der Zeppelin selbst erschrak.

„Fynn! Was tust du da?!“

Ludwig stürmte herein, packte einen Hebel und riss ihn nach unten. Das Summen brach abrupt ab.

Fynn wich zurück. „Ich... ich wollte nur sehen...“

Ludwig atmete schwer. Doch zu Fynns Erstaunen brüllte er nicht los. Stattdessen musterte er den jungen Mann lange.

„Vielleicht“, sagte er schliesslich langsam, „wird es Zeit, dass du erfährst, wozu die "Valkyria" wirklich fähig ist.“

Fynn spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte.

Fortsetzung folgt.

Kapitel 2: Durch die Wolken

Fynn stand noch immer atemlos vor der kupfernen Apparatur, als Ludwig den Blick von ihm löste und wortlos zum Kartentisch ging.

„Wir haben einen Auftrag,“ begann er knapp, während er mit einem Bleistift eine Linie von Basel nach Osten zog. „Eine seltene Sendung optischer Gläser aus Jena. Hochpräzisionsware für ein Basler Labor. Die brauchen das Zeug so bald wie möglich. Ich habe dafür einen Preis ausgehandelt, der uns die nächsten Monate die Miete für den Hangar und mehr deckt.“

Fynn riss die Augen auf. „Jena? Das heisst... wir fliegen los?“

„Heute. Das Wetter ist günstig. In drei Tagen zieht ein Tief aus dem Atlantik rein, und davor will ich wieder hier sein.“ Ludwig klappte die Karte zu. „Also keine Zeit verschwenden.“

Fynn half beim Tanken der Gaszellen, beim Nachfüllen des Ballasts und beim Prüfen der Propellerachsen. Während er arbeitete, konnte er nicht verhindern, dass sein Herz schneller schlug. Endlich würde er mitfliegen – und nicht nur am Boden zuschauen.

Noch vor Mittag lösten sich die Haltetaue der „Valkyria“ vom Boden. Das Luftschiff stieg gemächlich auf, der Rhein lag wie ein silbernes Band unter ihnen. Fynn stand an der Reling und sog die Luft ein. Über den Wolken breitete sich ein endloses, weiches Meer aus, das im warmen Licht der untergehenden Sonne in Gold und Purpur leuchtete.

„Es ist wie... wie Segeln im Himmel,“ murmelte er.

Ludwig, am Steuer, lächelte nur knapp. „Und genau so musst du es behandeln. Ruhig, vorausschauend – und immer wissen, wo der nächste Sturm lauert.“

Der Flug verlief ruhig. Als die Dämmerung sich vertiefte, glitten sie über Thüringer Wälder, bis unter ihnen die Lichter von Jena aufblitzten. Die Landung auf dem kleinen Flugfeld verlief reibungslos, und schon bald rollten Kisten mit der kostbaren Glasware an Bord. Fynn half beim Verstauen, sicherte jede Kiste mit Tauen.

„Schnell wieder in die Luft,“ drängte Ludwig.

Doch kaum waren sie fertig, trat der Flugfeldleiter zu ihnen. „Herr Abel, wir haben Meldung – eine massive Gewitterfront zieht von Westen her auf. Sie sollten mindestens bis morgen früh warten.“

Fynn spürte, wie ihm das Herz in die Hose rutschte. Gewitter und Zeppeline – er hatte genug Geschichten gehört, um zu wissen, dass das kein Spiel war.

Ludwig jedoch zog nur eine Augenbraue hoch. „Danke für die Warnung. Wir fliegen trotzdem.“

Wenige Minuten später stieg die „Valkyria“ wieder in den Abendhimmel. Vor ihnen türmten sich dunkle Wolkenberge auf, Blitze zuckten darin wie die Pulse eines schlaflosen Riesen.

„Ludwig, das sieht nicht gut aus...“ begann Fynn.

„Vertrau mir.“

Als der erste Donner grollte, beugte sich Ludwig über die geheimnisvolle Apparatur. Er legte Hebel um, drehte an Messingrädern. Das Gerät erwachte mit einem tiefen, vibrierenden Summen. Die Hülle des Zeppelins schien mitzuschwingen, das Geräusch wurde lauter, höher, bis es Fynn in den Knochen vibrierte.

Ein grelles Aufblitzen – doch es war kein Blitz.

Plötzlich war der Himmel klar. Dieselbe Landschaft lag unter ihnen, aber die Wolkenwand war verschwunden, als hätte sie nie existiert.

Fynn blinzelte, rang nach Worten. „Was... wie...?“

Ludwig warf ihm einen Seitenblick zu, ein Grinsen auf den Lippen. "Es gibt Wege, den Stürmen auszuweichen, Junge."

Fortsetzung folgt.

Kapitel 3: Vor und Zurück

Fynn stand immer noch wie angewurzelt am Steuerstand, die Hände klamm an der Reling. Die eben noch bedrohlich zuckende Gewitterfront war wie weggewischt – und doch befanden sie sich noch immer über denselben Hügelketten, dieselben Lichter der Dörfer glommen unter ihnen.

„Was ist hier passiert?“ fragte Fynn heiser.

Ludwig lehnte sich zurück, zog gemächlich an seiner Pfeife und sah ihn mit diesem Blick an, den Fynn noch nie ganz deuten konnte. „Ganz einfach: Wir sind nicht mehr im selben Heute wie eben. Ich habe uns ein paar Tage zurückgeschickt. Genau genommen in die Nacht vom Dienstag letzter Woche.“

„In die... Vergangenheit?“

„Exakt. Ich wusste, dass in jener Nacht kein Gewitter zwischen Jena und Basel lag. Den Wetterbericht hatte ich schon vor Tagen gelesen – damals, als er noch ein normaler Wetterbericht war. Ein kurzer Sprung zurück, und wir haben freie Bahn. Von hier aus fliegen wir durch bis kurz vor Basel, und dort, im Schutz der Wolken, springen wir wieder nach vorn. Für jeden Beobachter sieht es so aus, als wären wir geradewegs durch das Unwetter gesegelt.“

Fynn versuchte, den Gedanken zu fassen. „Und... man kann nur in der Zeit reisen? Der Ort bleibt derselbe?“

„Das ist die Regel. Der Himmel, unter uns der Boden – alles bleibt, wo es ist. Wir bewegen uns nicht im Raum, nur in der Zeit.“

Die „Valkyria“ glitt ruhig durch die klare Nacht. Die Sterne funkelten, und das ferne Brummen der Motoren vermischte sich mit dem gleichmässigen Knacken der Gaszellen im Temperaturwechsel.

Kurz vor Morgengrauen, als sie sich den ersten Nebelschwaden über dem Rhein näherten, beugte sich Ludwig erneut über die Apparatur. Wieder dieses tiefe, wachsende Summen, dann ein kurzes Flackern der Positionslichter – und als Fynn aus der Gondel schaute, war der Nebel dichter, das Licht des Morgens anders.

„Wieder in der Gegenwart,“ sagte Ludwig knapp.

Die Landung am Sternenfeld verlief reibungslos. Arbeiter rollten die Kisten mit den optischen Gläsern vom Laderaum, der Abnehmer quittierte mit einem zufriedenen Nicken und einem schweren Umschlag, der in Ludwigs Tasche verschwand.

Fynn stand daneben, den Kopf voller Fragen. Als die Männer vom Flugfeld wieder abgezogen waren, platzte es aus ihm heraus: „Ludwig... wenn man so in der Zeit herumreisen kann... was kann man damit alles tun? Man könnte... man könnte doch sehen, wie Birsfelden in zwanzig, fünfzig Jahren aussieht. Ob wir fliegen wie heute oder ganz anders...“

Ludwig sah ihn lange an, und zum ersten Mal war da nicht nur Strenge in seinen Augen, sondern auch ein Hauch von Wehmut. Er legte die Hand auf die Reling der „Valkyria“, als würde er mit ihr sprechen.

„Zeitreisen sind eine gefährliche Sache, Fynn. Spring nie in Abschnitte, in denen Krieg herrscht. Das kann dich schneller aus der Zeit fegen, als du ’ne Kurskorrektur machen kannst.“

Er grinste. „Aber keine Sorge, ich erspar dir das. Wir besuchen nur grossartige Abschnitte – Momente, in denen Birsfelden leuchtet.“

Am folgenden Abend hoben sie im Schutze der Nacht ab. Die Sterne funkelten über dem Rhein, während das vertraute Brummen der Windräder die Stille durchbrach. Ludwig gab Koordinaten in den Kompass ein. „In einigen Jahren wird man mit dem Bau eines Wasserkraftwerks begonnen“, sagte Ludwig. „Lass uns den Bau mal anschauen gehen. “ Mit einem lauten Summen sprang die Valkyria – nicht durch den Raum, sondern durch die Zeit.

Das Leuchten unter ihnen veränderte sich, und als der Nebel der Zeit wich, war Fynn überrascht: Unter ihnen lag Birsfelden – aber ohne den Sternenfeldflugplatz. Stattdessen ragten Kräne und Gerüste aus der Erde.

„1951 bis 1954, Bauzeit des Wasserkraftwerks Birsfelden,“ erklärte Ludwig. „Es ist ein gigantisches Projekt für unsere Zeit. Im Jahr 1954 wird das Werk ans Netz gehen. Vier Kaplan-Turbinen, zusammen 100 Megawatt Leistung – für diese Zeit ein technisches Wunder.“

Fynn sog die Szene auf: Gewaltige Betonwände, Schiffe, die an provisorischen Anlegestellen festgemacht hatten, und Bauarbeiter, die sich winzig im Vergleich zu den Maschinen wirkten. Gleichzeitig war er ein wenig traurig – der Flugplatz war verschwunden.

Nach ihrer Rückkehr in die eigene Zeit sass Fynn schweigend im Cockpit, überwältigt von den Eindrücken.

Fortsetzung folgt.

Kapitel 4: Sprünge durch Birsfelder Zeiten

Am nächsten Tag löcherte Fynn Ludwig mit unzähligen Fragen über die Techniken der Zukunft.

„Die Technik der Zukunft ist unglaublich... und Birsfelden... es wird sich so sehr verändern. Gibt es noch andere grossartige Momente, die die Leute hier geniessen werden?“

Ludwig grinste und zog genüsslich an seiner Pfeife. „Oh, mehr als du dir vorstellen kannst. In ferner Zukunft gibt es ein Fest – ein Rummel mit Lichtern, Fahrgeschäften, Musik, welches jährlich im Herbst stattfinden wird. Und die beste Ausgabe davon findet im Jahr 2025 statt.“

„Und weisst du was?“ fuhr Ludwig fort. „Die Reise kannst du allein antreten. Ich bin nicht mehr der Jüngste.“

Fynn wurde nervös. Seine erste Solo-Zeitreise. Am nächsten Abend gab er das Ziel ein... oder dachte er zumindest: Statt am 26. September 2025 landete er am 22. Juni 2025.

Es war abends und das Kraftwerk leuchtete fertiggestellt in voller Pracht. Etwas weiter unten an der Mündung der Birs sah er viel Licht und grosse Menschenmassen. Er setzte die Valkyria heimlich im Hardwald ab und schlich sich zurück ins Dorf. Am Birsköpfli angekommen ragte eine gewaltige Bühne in den Himmel, umringt von Festzelten. Er sprach einige Menschen an, die sich als Mitglieder des musik verein event arena vorstellten. Sie waren noch voller Euphorie – das 150-Jahre-Jubiläum von Birsfelden war gerade zu Ende gegangen.

Fynn erklärte, wer er war und woher er kam. Die anderen lachten ungläubig, erzählten ihm aber begeistert von der Feier, von Konzerten und leckerem Essen. Fynn war enttäuscht, dass er es verpasst hatte – bis einer von ihnen sagte:

„Ende September ist die Chilbi. Komm doch dann bei uns in der alten Turnhalle vorbei. Ist zwar kleiner, aber genau so schön.“

Fynn hielt inne. Die Chilbi... das war doch das Fest, das Ludwig gemeint hatte.

„Abgemacht“, sagte er, verabschiedete sich und kehrte zur Valkyria zurück. Er flog über das nächtliche Birsfelden, bis er die alte Turnhalle erreichte. Irgendwie ironisch: In seiner Zeit war die Turnhalle so gut wie neu.

Dort stellte er den Kompass sorgfältig ein:

26. September 2025, 19:00 Uhr.

Ein letzter Blick auf die Uhr – dann drückte er den Startknopf.

Die Valkyria vibrierte, das Summen wuchs, und mit einem gleissenden Licht verschwand sie aus der Zeit.

Verpasse auf keinen Fall Fynns Ankunft in der alten Turnhalle!